Das ganzheitliche Denken des Hippokrates hatte in Griechenland keinen Bestand. Angefangen hat die Trennung von Leib und Seele in der griechischen Mythologie. Orpheus selbst ist wohl nur eine Phantasiegestalt, aber die Lehre der Orphiker ist bekannt, sie glaubten an die Seelenwanderung. Im menschlichen und tierischen Dasein gibt es ein belebendes Prinzip, das den Tod des Körpers überdauere. Beim Ableben trennt sich diese Instanz, die „Seele“, vom Körper und begibt sich als dessen schattenhaftes Abbild in die Unterwelt.
Dadurch erhielt die Seele eine zuvor unbekannte Autonomie. Ihre Verbindung mit einem Körper ist bloß eine Episode in ihrem Dasein. Sie galt nun nicht nur als unsterblich, sondern wurde auf eine vom vergänglichen Körper unabhängige und gottähnliche Basis gestellt. Diese Trennung hatte auch zur Folge, dass der Mensch zu einem der Moral verpflichteten Wesen wurde. Wer gut lebt, wird seelisch belohnt, wer schlecht lebt, dessen Seele wird bestraft. Zuvor galt in der griechischen Antike der menschliche Körper und die Menschen selbst der moralischen Gleichgültigkeit der Natur unterworfen.
Wer schlecht lebt, wird bestraft
Eine Moral, wie wir sie kennen war den alten Griechen so fremd wie ihren Göttern im Olymp. In Fragen wie Treue, Fairness, Gerechtigkeit, Raub und Totschlag herrschten die Naturgesetze. Mit dem Mythos der Orphiker wurde die Seele zur Instanz über Gut und Böse und damit zum Grundstein der Religionen.
Die Heimat der Seele
Wer schlecht lebt muss büßen, die Seele wird gezwungen, im Naturkreislauf zu verbleiben und kann sich auch in einem Tier wiederfinden. Endgültig kann sie die Körperwelt verlassen, wenn sie einen bestimmten Erlösungsweg beschreitet. Das Ziel ist dauerhaftes glückseliges Dasein im Jenseits, ihrer Heimat.
Mit dem Mythos der Befreiung der Seele vom vergänglichen Körperwollten die Orphiker dem Menschen etwas Gutes tun.Doch sie haben damit auch das ganzheitliche Denken ins Wanken gebrachtund so dem Körper eine unheilvolle Zukunft beschieden.
1 Der Eintrag über die Orphiker bei Wikipedia zählt zu den Exzellenztexten in diesem Web-Lexikon.
Gibt es eine Seele? Ein vom Körper unabhängiges Etwas, das von Gott geschaffen wurde, unsterblich ist und unser irdisches Dasein überdauert? Oder gibt es dieses etwas gar nicht und es gibt in Wirklichkeit nur einen Körper, der ganzheitlich zu betrachten ist, wie Hippokrates meint. So oder so, auf unsere Art zu leben hat die Antwort auf diese Frage einen entscheidenden Einfluss, hängt davon doch ab, ob wir uns im Leben mehr um die (unsterbliche) Seele oder um den (vergänglichen) Körper kümmern sollten. (Hippokrates: Urvater der Medizin. Wissen.de)
Die Frage nach dem Verhältnis zwischen Körper und Geist ist eine zentrale Frage seit der Antike und wird gewälzt seid Philosophen über Gott und die Welt nachdenken. Bei dem sogenannten „Leib-Seele-Problem“ stehen sich zwei gegensätzliche Ansätze gegenüber: die Monisten und die Dualisten. Die Monisten sehen Leib und Seele als Einheit, für die Dualisten sind Leib und Seele zwei voneinander getrennte Phänomene in einem Körper.
Der Mensch, ein beseelter Leib?
Als einen der frühen Monisten kann man den Arzt und Philosophen Hippokrates im 5. Jahrhundert vor Christus bezeichnen. Für viele Mediziner gilt er als derjenige Arzt der Antike, mit dessen Namen sich der Schritt von der Mythologie zur Logik im medizinischen Denken verbindet. Der Mensch erschien Hippokrates als ein Ganzes, als beseelter Leib. Körper und Seele sind untrennbar miteinander verbunden, beeinflussen sich gegenseitig und gehen im Tod gemeinsam unter.
Das Neue an Hippokrates:
Hippokrates hat den Menschen und seine Krankheit stets als Einheit gesehen und kann deshalb als erster Ganzheitsmediziner bezeichnet werden. Er fragte bei seinen Behandlungen seine Patienten immer auch nach deren Umfeld und nach ihrer Lebensweise! Er glaubte zudem an die Selbstheilungskräfte des Körpers und ging mit allzu radikalen Behandlungsmethoden eher vorsichtig um. »Unsere Körper sind die Ärzte unserer Krankheiten«. Worte, die heute wieder viel Zustimmung finden.
Keine Mühen scheuen
So wie Hippokrates Körper und Geist als eine Einheit betrachtete, gilt er für die Medizinhistoriker als der Begründer der Psychosomatik. Bekannt wurde Hippokrates auch, weil er von seinen Patienten etwas bis dahin einmaliges verlangte: wenig essen, viel bewegen und keine Mühen und Beschwerlichkeiten auslassen.1 Hippokrates war überzeugt, wenn der Mensch etwas für seine Seele tun wollte, für den Geist und die psychische Gesundheit, dann muss er den Körper gesund erhalten, sich bewegen und sportlich aktiv sein.
Hätte sich Hippokrates mit seiner ganzheitlichen Denkweise in der Antike durchgesetzt und in der Philosophie Bestand gehabt, wäre die Geschichte Europas anders verlaufen. Wer, wie bei der ganzheitlichen Denkweise, Geist und Seele im Tod mit dem Körper untergehen lässt, tut sich schwer mit Heilsversprechen und wird wenig Bereitschaft für Religionskriege finden.
Menschliche Hybris:
Wenn der Mensch behauptet,seine Seele sei ihm bei der Zeugung von Gott hinzugefügt worden,dann ist das so, als wollte der Apfel erklären, der Geschmack des Fruchtfleischessei ihm vom „Gott des Apfels“ beigemischt worden.
1Anmerkung: Die Ausdrücke Geist und Seele werden im Text nicht unterschieden. Im Sprachgebrauch unterscheiden sie sich dadurch, dass man dem Geist den Bereich des rationalen Überlegens und Handelns zuordnet, der Seele dagegen den Bereich der Gefühle und der Intuition.
Das Verhältnis von Leib und Seele zueinander ist seit fast dreitausend Jahren Gegenstand der Auseinandersetzung in der abendländischen Philosophie. Stets drehte es sich um die Frage, ob der Mensch sich mehr um sein Seelenheil oder mehr um die Gesundheit des Körpers bemühen soll.
Von den Sinnen über’s Rechenzentrum an die Muskeln
Die Welt, so wie wir sie wahrnehmen ist nicht eine unserer Sinne, sondern eine des Gehirns. Jedes Sinnesorgan liefert das Wahrgenommene nur in Form von Datensätzen an das jeweils zuständige Gehirnareal. Daraus erschafft es dann, jeden Tag wieder neu, eine ganze Welt: die Bilder des Tages, die Gerüche, das Erspürte, die bewusst wahrgenommenen Wörter und Töne sowie alle Geschmackserlebnisse. Ob der Tag dann ein schöner war, entscheidet am Abend wieder das Gehirn und jedes hat dafür seine eigenen Maßstäbe.
Je nach dem, wie das bisheriges Leben verlaufen ist, nimmt das Gehirn des einen Jazz-Musik als Wohlklang, das des anderen als Lärm wahr. Was ein schöner Garten ist, wird von Mensch zu Mensch anders empfunden und beim Essen sind die Geschmäcker sprichwörtlich sowieso verschieden. Wie auch immer, dass wir überhaupt jeden Tag eine Welt erschaffen können, hängt vor allem an einem funktionierenden Datenübertragungssystem (Nervenbahnen) und einem fehlerfrei arbeitenden Datenverarbeitungssystem (Gehirn).
Jetzt nach Jahren der Forschung mit Ergebnissen, die sich für die Demenzvermeidung als nicht durchschlagend erwiesen haben, ist es an der Zeit, einen neuen Ansatz zu wählen und dafür bietet sich das „Datenübertragungs- und -verarbeitungssystem“ an. Dessen Funktionieren ist für die geistige Gesundheit von eben solcher Bedeutung, wie das „Herz-Kreislauf-System“ für die körperliche Gesundheit, aber es ist noch in keiner Weise erforscht. Beide Systeme im Überblick:
1. Das Herz-Kreislaufsystem
Lebensspendend
Alle kennen das Herz-Kreislaufsystem. Vom Herzen wird das Blut durch ein riesiges Adersystem zu den Organen und Muskeln gepumpt, um die Körperzellen mit Sauerstoff und Nährstoffen zu versorgen. Von dort wird das verbrauchte Blut zur Regeneration in die Lunge und zuletzt wieder zum Herzen zurück gepumpt. (Wikipedia: Blutkreislauf)
Einmal das Blut vom Herzen und zurück zu pumpen, dauert etwa eine Sekunde und mit einem kräftigen Herzschlag beginnt die Zirkulation von Neuem. Dass dieses lebensspendende System im Alter regelmäßig trainiert werden muss, ist jedem nur zu bekannt. Zuständig ist das Herz-Kreislaufsystem für die mögliche Dauer der Bewegung und die angemessene Art, es zu trainieren, ist regelmäßiger Ausdauersport: Walking, Laufen, Radfahren, Schwimmen.
2. Das Daten-Kreislauf-Syste
Geistspendend
Nicht Blut sondern Daten zirkulieren im zweiten, weit weniger bekannten körperumspannenden System des Menschen. Gemeint ist das Netz der neuronalen Verbindungen von den Sinnen ins Rechenzentrum (Gehirn) und von dort aus nach der Verarbeitung hin zu jedem einzelnen Muskel. Es ist nicht wie das Herz-Kreislaufsystem lebensspendend, aber es schafft und bewahrt alles Geistige in den Lebewesen.
Wie das Herz-Kreislauf-System kann man auch dieses für die Datenübertragung zuständige System durch gezielte sportliche Aktivitäten fit halten. Zuständig ist das Datennetz für die Qualität der Bewegung. Im Zusammenhang mit den Fragen der Altersdemenz ist dieses System von eminenter Bedeutung und sollte ähnliche Beachtung finden, wie das Herz-Kreislauf-System. Gerechnet wird bei der Datenübertragung nicht in der Dauer von Sekunden, sondern in Millisekunden. (Wikipedia: Bewegungskontrolle) 1
Forschung ist gefordert?
Wissenschaftliche Forschung, die koordinativ anspruchsvolle Bewegung in ihrer Wirkung auf ein geschädigtes Gehirn ergründen will, sollte das Daten-Kreislauf-System in den Blick nehmen. Es ist für die geistige Gesundheit von großer Bedeutung und um es fit zu halten, kann dem Gehirn gar nicht zu viel abverlangt werden. Drei Faktoren bestimmen die Intensität, in der es gefordert ist:
1. Wie viele Muskeln sind an einem gewünschten Bewegungsablauf beteiligt?
2. Mit welcher Frequenz müssen die Muskeln aktiviert werden, um eine Bewegung in der gewünschten Qualität zu erhalten (Verarbeitungsgeschwindigkeit)
3. Wie lange wird die Bewegung ausgeübt (Verarbeitungsdauer)
Das Produkt der drei genannten Faktoren ergibt für die durchgeführte sportliche Aktivität ein bestimmtes vom Gehirn zu verarbeitendes Datenvolumen und je größer es ist, desto besser ist der Effekt für geistige Gesundheit. Dass bei einem halbstündigen Spaziergang im Park vom Gehirn wenig Daten zu verarbeiten sind, erklärt sich von selbst. Ganz anders bei einer stundenlangen Bergtour im unwegsamen Hochgebirge, bei der das Gehirn am Ende ein riesiges Datenvolumen aus den Sinnen in Unmengen von gezielten Impulse berechnet und an jeden der beteiligten Muskeln gefeuert haben wird.
Wirksamkeit je nach Größe des zu verarbeitenden Datenvolumens:
Es gibt nicht die eine koordinativ anspruchsvolle Aktivität, es gibt derer unzählige und je nach dem Datenvolumen, das bei der Aktivität vom Gehirn zu verarbeiten ist, hat sie für die Hirngesundheit eine mehr oder wenig große Bedeutung. Koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten unterschieden sich in ihrer Wirksamkeit also nicht nur zu den wenig anspruchsvollen, sondern auch noch untereinander. Das zu erforschen und darzustellen, wäre für die Entscheidung der Betroffenen, welche Aktivitäten sie bevorzugen sollten, um geistig gesund zu bleiben, von großer Bedeutung .
Hirnlos
Sehr gering ist die Leistung für das Gehirn bei eintönigen Bewegungen, die beim Ablauf nur wenig Korrekturbedarf erfordern. Eine solche, praktisch gehirnlose Bewegung, ist der Dauerlauf auf der Teerstraße.
Höchstleistung für das Gehirn
Die theoretisch mögliche Höchstleistung für das Gehirn löst dagegen eine Bewegung aus, bei der alle Muskeln zum Einsatz kommen und pro Sekunde die maximale Daten-Verarbeitungsgeschwindigkeit erforderlich ist, um den Bewegungsablauf unter Kontrolle zu halten.
1 Der Wikipedia-Beitrag zur Bewegungskontrolle ist eine hervorragende wissenschaftliche Grundlage für die Frage, wie durch gezieltes Training “geplante und ungeplante Bewegungen so ablaufen, dass deren beabsichtigtes Ziel sicher erreicht wird”. Ein sehr zu empfehlende Abhandlung für jeden, der sich des Themas “Demenzvermeidung durch Bewegung” annehmen will.
Kraft- und Ausdauersport, Dehnungs- und Faszienübungen sei allen empfohlen, die körperlich gesund bleiben wollen. Bei Empfehlungen dagegen, wie geistige Gesundheit zu erhalten ist, sollte sich Grundlegendes ändern. Statt weltweit die gleichen Rezepte zu empfehlen ist eine Differenzierung von Land zu Land nötig. Dies lässt sich einfach erklären: bei koordinativ anspruchsvollen Aktivitäten gibt es große regionale Unterschiede. In jedem Land treibt man aus historisch gewachsener Tradition heraus Sport auf eine andere Weise. Kraft und Ausdauer werden überall gleich trainiert, aber alles koordinativ Anspruchsvolle überall anders.
Länderspezifisch gibt es viele interessante Beispiele: In Frankreich spielen alte Männer stundenlang Boule. Da für braucht es eine gute Auge-Hand-Koordination. In Deutschland geht man dafür gerne Kegeln und Stockschießen.
In China wird traditionell Tai Chi gepflegt, was Balance, Flexibilität und Koordination erfordert.
In Japan ist Kalligraphie, also die Kunst des schönen Schreibens mit Pinsel und Tinte, eine beliebte Beschäftigung. Sie erfordert Präzision, Konzentration, eine gut geschultes Auge und eine ruhige Hand.
Länderübergreifend sind die meisten aller Ballsportarten wie Tischtennis, Fußball, Volleyball, Baseball und Basketball verbreitet. Ihnen allen ist eigen, dass sie hohe Konzentration, Koordination, Rhythmus, Beweglichkeit und Teamarbeit erfordern.
In Indien hat Yoga eine Jahrtausende alte Tradition, ist aber auch überliefert in Nepal, Tibet, Thailand und Bali. Gefordert und gefördert werden dabei eine Vielzahl von koordinativen Fähigkeiten: Körperwahrnehmung, Gleichgewicht, Koordination, Flexibilität, Konzentration und Atmungskontrolle. Als länderübergreifend in den westlichen Industrieländern kann beispielhaft das Golfspiel genannt werden. Es wird oft noch im Alter ausgeübt und fordert Gleichgewicht, eine Auge-Hand-Koordination, Rhythmusgefühl, Raumorientierung, Reaktionsfähigkeit und Körperwahrnehmung, um den Schwung korrekt zu steuern.
Weltweit überall, bis hinein in jedes Dorf, bei allen Festen, in Hinterhöfen und Ballsälen, gibt es, wenn Freude aufkommen soll, nur eines: Tanzen. Volkstänze, ob in Reihen oder im Kreis erfordern Beweglichkeit Konzentration, Rhythmusgefühl und Körperbeherrschung.
Das Ziel ist ein hehres
Die wissenschaftliche Forschung, will sie zu Ergebnissen kommen, wie weltweit der Demenz etwas entgegengesetzt werden kann, muss sich also differenzieren. Es braucht Studien in allen Regionen, die sich auf die länderspezifischen körperlich anspruchsvollen Aktivitäten konzentrieren, um daraus jene Erkenntnisse zu gewinnen, wie die Menschen eines jeden Landes im Alter geistig fit bleiben können. Die daraus gewonnen Ergebnisse werden dann der Weltgesundheitsorganisation übermittelt, die daraus ein Gesamtbild für alle Länder mit Vorschlägen erstellen könnte, wie sich die Menschen im Alter im jeweiligen Land vielseitig und koordinativ anspruchsvoll bewegen könnten.
Ziel wäre es, weltweit jene Informationen zu liefern, wie SeniorInnen ihren Geist gesund erhalten können. Immerhin, das Ziel aller Beteiligten, die Entwicklung demenzbedingter Pflegefälle einzuhegen, ist ein hehres.
Nur einmal angenommen …
… wenn es stimmt, dass Ausdauertraining dem Gehirn wenig bringt, alles koordinativ Anspruchsvolle es dagegen gesund erhält, dann schmeißt das alles um. Dann müssen Fachleute ihre Empfehlungen überdenken, Alzheimerforschung muss sich neu orientieren und alle Demenzstrategien, angefangen von jener der WHO bis hin zu der eines jedes Einzelnen auf den Prüfstand.
Durch meine vielfältigen sportlichen Aktivitäten ist mir mehr und mehr bewusst geworden, dass die Forschung in ihren Studien die unterschiedliche Wirkung von Bewegung zu wenig berücksichtigt. Jede Bewegung wirkt im Körper anders: Kraftsport macht starke Muskeln und stabile Knochen, Ausdauersport ein gesundes Herz und ein ausgeglichenes Gemüt, Dehnungsübungen machen gelenkig, Faszienübungen das Bindegewebe geschmeidig und einzig alles koordinativ Anspruchsvolle einen gesunden Geist.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt explizit Kraft- und Ausdauertraining. So fraglich das erscheint, es hat eine einfache Ursache: durchwegs alle Studien wurden mit Probanden durchgeführt, die bereit waren, regelmäßig Kraft und Ausdauer zu trainieren.
Ein Zirkelschluss1 rund um den Erdball
Was die WHO empfiehlt2
Einer Empfehlung der WHO entsprechend, wird in allen Ländern den alten Menschen jeweils wöchentlich 150 Minuten moderater Ausdauersport und 75 Minuten Krafttraining mittlerer Intensität empfohlen. In der Folge dieser Empfehlung ergibt das einen Zirkelschluss1, der über fünf Stationen einmal um den Erdball herum verläuft:
1 Ein Zirkelschluss ist ein logischer Fehler, bei dem die Prämisse einer Argumentation ihre eigene Schlussfolgerung voraussetzt. Das bedeutet, dass die Aussage, die bewiesen werden soll, stillschweigend in den Prämissen enthalten ist, wodurch das Argument im Kreis läuft und keinen externen Beweis bietet.
Beweisführung im Kreis
1. Wissenschaftliche Studien werden weltweit generell mit Teilnehmern durchgeführt, die Kraft- und Ausdauersport betreiben. 2. Die Erkenntnisse daraus werden von der WHO im Ergebnis übernommen und dann allen Mitgliedsländern als Anregung für ihre Bürger empfohlen. 3. Die Gesundheitsresorts dieser Länder ermuntern ihre Senioren, sich gemäß den Vorgaben der WHO zu bewegen. 4. In vielen Ländern werden diese Vorgaben der WHO von den Menschen befolgt. 5. Zuletzt werden dann für weitere Studien in allen Ländern wieder Teilnehmer verpflichtet, die ihre Kraft- und Ausdauer trainieren und so beginnt der Kreislauf von Neuem.
Mit den heutigen Möglichkeiten der KI kann man die Probe auf’s Exempel machen. Auf die Frage, „was empfehlen die Gesundheitsbehörden zur Demenzvermeidung in Saudi-Arabien“ bekommt man zur Antwort:
„Die Gesundheitsbehörden weltweit, einschließlich Saudi-Arabien, empfehlen Maßnahmen zur Demenzprävention, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen basieren. Laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind einige der wichtigsten Schritte zur Reduzierung des Demenzrisikos: Körperliche Aktivität: Regelmäßige Bewegung, wie aerobes Training oder Krafttraining, kann die kognitiven Funktionen verbessern und das Demenzrisiko senken. Gesunde Ernährung: Eine ausgewogene Ernährung, wie die Mittelmeerdiät, wird empfohlen, da sie reich an Obst, Gemüse, Vollkornprodukten und gesunden Fetten ist. Blutdruck- und Blutzuckerkontrolle: Die Kontrolle von Hypertonie und Diabetes ist entscheidend, da diese Erkrankungen mit einem erhöhten Demenzrisiko verbunden sind. Tabakentzug und Alkoholreduktion: Der Verzicht auf Rauchen und ein moderater Alkoholkonsum können ebenfalls helfen. Kognitive Stimulation: Aktivitäten, die das Gehirn herausfordern, wie das Erlernen neuer Fähigkeiten oder das Lösen von Rätseln, sind hilfreich. Diese Empfehlungen sind allgemein gültig und können auch in Saudi-Arabien angewendet werden.“
Die Folge dieses logischen Fehlers in der Beweisführung sind weiter steigende Pflegefälle überall auf der Welt. Wollte man aus diesem fatalen Zirkelschluss ausbrechen, müsste wissenschaftliche Forschung von den vielen Möglichkeiten, sich sportlich zu betätigen, mehr als bisher alles koordinativ Anspruchsvolle in den Blick nehmen und die Erkenntnisse daraus der WHO empfehlen.
Warum haben die Studien ihr erklärtes Ziel verfehlt?
Man weiß viel darüber, wie man Demenz vermeiden kann. Man weiß nur nicht, warum es trotzdem nicht gelingt, die Zunahme von Demenz bedingt Pflegebedürftigen zu stoppen. Um das zu ergründen, sollte man sich die Studien einmal genauer ansehen. Weltweit haben diese aus unterschiedlichen Gründen ihr erklärtes Ziel verfehlt. Drei Erklärungsversuche:
1. Für körperlich Eingeschränkte wertlos
Alle Studien zur Altersdemenz gehen an der Lebenswirklichkeit vorbei. Sie gehen davon aus, dass die Beweglichkeit bis zuletzt erhalten bleibt. Mit zunehmendem Alter nimmt sie aber naturgemäß ab. Weltweit haben alle Studien ihre Untersuchungen aber so angelegt, dass die Teilnehmer sich regelmäßig sportlich bewegen mussten. Die Ergebnisse daraus sind für körperlich eingeschränkte Menschen – und das sind mehr als 50 Prozent der über 70-jährigen – wertlos.
2. Ausdauertraining für’s Gehirn ungeeignet
Um körperlich und geistig gesund zu bleiben, wird von den Ärzten und allen Ratgebern empfohlen, moderat und altersgemäß die Ausdauer zu trainieren. Wie bereits dargestellt, sind Ausdauersport und Krafttraining aber denkbar ungeeignet, um geistig fit zu bleiben. So jedenfalls kann es nicht gelingen, der Demenz etwas entgegen zu setzen.
3. Einzelne Aktivitäten haben nur eine begrenzte Wirkung
Viele weitere Aktivitäten, darunter auch koordinativ anspruchsvolle, wurden auf ihre Wirksamkeit zur Demenzvermeidung untersucht und bei ihnen allen hat man festgestellt, dass sie zur Erhaltung geistiger Fitness Wirkung zeigen. Allerdings, sie wirken nur sehr eingeschränkt und mit einer allein ist nichts gewonnen. Weitere solcher Studien mit einzelnen Aktivitäten sind deshalb entbehrlich.
Nachfolgend zwei mögliche Studienansätze, die eher als Ausdauerstudien Erfolg versprechen.
Multimodal mit Schwerpunkt auf koordinativ anspruchsvoller Bewegung
Die Forschung, wenn sie durch eine neue Studie das Zusammenwirken vielseitiger Bewegungsaktivitäten untersuchen wollte, müsste also einen neuen Ansatz wählen. Sie müsste ebenso wie die Finger- oder die Agewell-Studie einen multimodalen Ansatz wählen. Multimodal aber in Form von mehreren Bewegungsaktivitäten. Also statt sechs Module gesund leben und nur eines mit Bewegung sollte es umgekehrt sein: sechs Module Bewegung und eines mit gesund leben .
Jeder wählt für sich
Konkret könnten das bezüglich Bewegung sechs verschiedene, von den Teilnehmern selbst gewählte Arten von Aktivitäten sein, die im Wochenrhythmus ausgeübt werden. Möglichst sechs Aktivitäten, die das Gehirn auf ganz unterschiedliche Weise fordern: zum Beispiel Tanzen, Wassergymnastik, Balanceübungen, Waldspaziergänge, Musizieren und Tischtennis.
Die Forschung würde damit in den Blick nehmen, wie sich ein ganzer Reigen von komplex zu koordinierenden Bewegungsabläufen, die regelmäßig ausgeübt werden, in den neuronalen Schaltkreisen auswirkt.
Vergleichsstudie: Aerobic-Exercise vs. Brain-Exercise
Für die Frage, wie durch Bewegung Demenz zu vermeiden wäre, könnten die Ergebnisse einer Vergleichsstudie von großer Aussagekraft sein:
Zwei Gruppen
Die Teilnehmer würden in zwei Gruppen eingeteilt. Eine mit Ausdauersportlern (aerobic exercise) und ein zweite mit Koordinativsportlern (brain exercise). Die Ausdauersportler trainieren so wie es von der WHO empfohlen wird und die Koordinativsportler trainieren wie im Beispiel eins mit regelmäßig sechs verschiedenen koordinativ anspruchsvollen Aktivitäten.
Zu erwarten ist, wie schon der Name sagt, dass die Koordinativsportler (brain-exercise) besser abschneiden und diese Teilnehmer über den Studienzeitraum das Fortschreiten der Demenz spürbar verzögern oder gar stoppen können. Sollte sich das erweisen, wäre das für alte Menschen eine äußerst wichtige Information. Zumindest für jene, die bereit sind, für ihre geistige Gesundheit sportlich aktiv zu bleiben.
Die körperlichen Fähigkeiten alter Menschen: Sich koordinativ anspruchsvoll regelmäßig und vielseitig zu bewegen wird weltweit nirgendwo empfohlen. Allenfalls ambitionierte kognitive Herausforderungen werden angeraten, aber bezüglich Bewegung wird nur wenig Anspruchsvolles gefordert. Das mag den (vermeintlich geringen) körperlichen Fähigkeiten der Menschen im Alter geschuldet sein, nicht aber dem Anspruch, Demenz nachhaltig zu vermeiden.
Die Ausdauerstudie der Deutschen Sporthochschule Köln, die FINGER-Study und die Agewell-Studie der Uni Leipzig sind nicht die einzigen Studien, die Bewegung als Möglichkeit für demenzfreies Altern untersucht hat. Weltweit wurden auch zuvor schon Studien zum selben Thema durchgeführt. Die Ergebnisse sind übereinstimmend und ernüchternd zugleich:
Bewegung “kann helfen, das Demenzrisiko zu senken”, hat “abschwächende Tendenzen”, und ist “möglicherweise eine krankheitsverlangsamend“. Das Fazit, wonach die Krankheit allenfalls gebremst wird, könnte also ernüchternder nicht sein.
Weltweit 29 Studien ausgewertet
J. Eric Ahlskog, Professor an der Mayo Klinik in Rochester, Minnesota, wertete im Jahr 2011 die bis dahin 29 wichtigsten Untersuchungen aus. Titel der Metastudie: „Körperliche Bewegung als vorbeugende oder krankheitsmodifizierende Behandlung von Demenz und Gehirnalterung“. (Gesamttext der Metastudie: J. Eric Ahlskog).
Bei allen untersuchten Studien fanden sich bei den Teilnehmern keine Hinweise auf eine nachhaltige Wirksamkeit von regelmäßigem Ausdauertraining. Eigentlich nicht anders zu erwarten, weil das Gehirn stets außen vor blieb. Keine der von den Probanden geforderten Übungseinheiten war für das Gehirn anspruchsvoll. Von den möglichen Aktivitäten hat man ausgerechnet jene genommen, die das Gehirn am wenigsten stimulieren.
Alle Studien setzen auf stupide Ausdauerübungen
Natürlich, die beste Methode zur Stärkung des Herz-Kreislaufsystems ist unbestritten Ausdauertraining. Warum aber gelten lockere Ausdauerübungen als ideale Möglichkeit, das Gehirn im Alter gesund zu erhalten? Eine andere Möglichkeit wären Übungen, für die es in der englischen Sprache einen passenden Ausdruck gibt: „Brain-Exercise“. Übersetzt könnte man sagen, Gehirntraining durch koordinativ fordernde Bewegung und dieses bietet sich zweifellos eher als Ausdauertraining an, wenn es darum geht, geistige Gesundheit zu gewährleisten!
Zur Geschichte der Studien:
Vor mehr als dreißig Jahren konnte mit Hilfe der Nonnenstudie der Zusammenhang von eiweißhaltigen Ablagerungen im Gehirn und der Altersdemenz erschüttert werden. Deshalb galten damals die Lebensgewohnheiten der Nonnen als zuverlässiger Garant gegen die Demenz. Die nachfolgenden Studien zu diesem Thema setzten nicht mehr auf die Lebensweise der Menschen, sondern auf Bewegung, insbesondere auf lockeres Ausdauertraining.
Ausdauertraining war dann für die nächsten 20 Jahre die Norm für die Forschung, um den Nachweis zu liefern, dass Bewegung geistige Gesundheit erhalten kann. Der Nachweis ist bis heute ausgeblieben und die negative Entwicklung bei Alzheimer ist ungebrochen. Dass Ausdauertraining trotzdem bis heute als idealer Ansatz gegen die Demenz gilt, hat zur Folge, dass sich alle zu Unrecht auf der sicheren Seite wähnen, wenn sie ein paar mal die Woche ihre Laufstrecke absolvieren, gelegentlich Radfahren und jeden Tag den Hund ausführen.
Untersuchung einzelner Aktivitäten
Zusätzlich zu den Ausdauerstudien gibt es unzählige weitere, die jeweils eine Aktivität (Tanzen, Yoga, Musizieren, Tischtennis und andere mehr) untersucht haben. Alle haben sie ergeben, dass sie – eher als Ausdauertraining – für die geistige Fitness erkennbar etwas bewirken können. Allerdings, mit nur einer dieser Aktivitäten ist nichts gewonnen. Wie viel und wie vielseitig man sich bewegen muss, damit die Netze lückenlos und intakt bleiben, ist bisher nicht erforscht, die Antwort darauf wäre aber von enormer Bedeutung für Menschen mit ersten Anzeichen der Alterskrankheit. Es zu erforschen wäre den „Schweiß der Götter“ wert.
Sicher ist, wenn man das Fortschreiten verhindern will, braucht es einen bunten Strauß an gehirnfordernden Aktivitäten und eben solchen sportlichen Anstrengungen. Vieles ist bekannt, was noch aussteht ist eine Forschung mit Probanden, die bereit sind, gleich eine Vielzahl von komplex zu koordinierenden Aktivitäten regelmäßig auszuüben. Demenzvermeidung ist nicht von Dauer, wenn sie lediglich als Einzeldisziplin ausgeübt wird. Demenzvermeidung ist ein Zehnkampf.
Die vier Entwicklungsstufen in der Alzheimerforschung:
– zu Anfang wurde das Leben (der Nonnen) untersucht, um Erkenntnisse zur Vermeidung von Alzheimer zu gewinnen
– in der Folge verlagerten sich die Studien auf Bewegung in Form von regelmäßigem Ausdauersport
– und schließlich untersuchte die Forschung einzelne geistig anspruchsvolle Aktivitäten
– was fehlt, sind Studien, die das Zusammenwirken von einer ganzen Reihe koordinativ fordernder Bewegungsabläufen untersuchen.
Die Finger-Studie hat in der Demenzforschung neue Maßstäbe gesetzt. Die Macher der Studie wählten einen „multimodalen Ansatz“ (gesünder ernähren, mehr bewegen, Gedächtnisübungen). Die Uni Leipzig orientierte sich in der 2018 begonnenen „Agewell-Studie“ daran und verpflichtete die Teilnehmer zu ebenso vielseitiger Intervention.Im Einzelnen wurde den Teilnehmern nicht weniger als sechs gesundheitsfördernde Maßnahmen aufgegeben:
Die Probandinnen und Probanden hatten, basierend auf Vorerkrankungen und Lebensstil-Faktoren, ein erhöhtes Risiko für eine spätere Demenz, aber noch keine ersten Anzeichen der Alterskrankheit. Es wurden gegenüber der Finger-Studie zusätzliche Komponenten des sozialen Lebensstils und Empfehlungen zu Über- und Untergebrauch von Medikamenten aufgenommen und die Teilnehmer zu sozialer Aktivität zu ermutigt, da ein aktiver Lebensstil auch im Alter vor Demenz schützen würde. Ebenso wurde von den jeweiligen Hausärzten den Studienteilnehmern bei Bedarf spezifische Empfehlungen zu deren Medikamenteneinnahme geben. Auf das Ergebnis der Studie konnte man gespannt sein.
2023 wurde das Ergebnis veröffentlicht und es zeigt, man kann etwas tun: „Gelänge es, die beeinflussbaren Risikofaktoren um 15 Prozent zu reduzieren, könnten nach den Modellrechnungen von den erwarteten zwei Millionen Krankheitsfällen im Jahr 2033 theoretisch 138 000 verzögert oder vermieden werden. Bei 30 Prozent wären es sogar 265 000 Fälle.“
Die Ergebnisse im Einzelnen:
Die Intervention umfasste die Optimierung von Ernährung und Medikation, sowie die Steigerung der körperlichen, sozialen und kognitiven Aktivität. Insgesamt wurde kein Effekt der Intervention auf die globale Kognition festgestellt, allerdings fand sich ein signifikant positiver Effekt bei Teilnehmenden mit geringer Bildung. In der gesamten Stichprobe verbesserte sich außerdem die soziale Kognition. Außerdem konnte ein positiver Effekt der Intervention auf die gesundheitliche Lebensqualität bei allen Teilnehmenden der Interventionsgruppe feststellen, bei Frauen konnte die Intervention zudem depressive Symptome reduzieren.
Es bleibt dabei: die einzige wirksame Möglichkeit, um im Alter von 60 und mehr Jahren im Stadium beginnender Demenz (MCI) diese noch in Schach halten zu können, sind koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten und regelmäßiger Sport. Diese Behauptung geht davon aus, dass neuronale Schaltkreise nur durch Bewegung gebildet, gestärkt und (falls geschädigt) erneuert werden können. Ausgeschlossen ist demnach, dass man die geschädigten Netze im Alter durch koordinativ anspruchslose Aktivitäten “reparieren” könnte.
Untermauert wird diese Behauptung damit, dass man ja auch in den Therapieräumen von Reha-Kliniken für Schlaganfallpatienten im wesentlichen nur Geräte und Stationen findet, die den Patienten koordinativ anspruchsvolle Aufgaben abverlangen. Da im Unterschied zum Schlaganfall bei der Demenz aber nicht einzelne Bereiche des Gehirns betroffen sind, sondern das gesamte neuronale Netz in Mitleidenschaft gezogen ist, ist es erforderlich, nicht eine oder zwei koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten auszuüben, sondern eine Vielzahl davon. Je mehr, desto besser, weil mit jedem Bewegungsablauf ein anderer Bereich im neuronalen Netz aktiviert wird.
Wenn bei der Agewell-Studie neben all den allgemeinen gesundheitsfördernden Maßnahmen, die den Geist nur wenig fordern, nur zwei mal pro Woche 20 bis 30 Minuten Gleichgewichtstraining abverlangt wird, dann ist das zu wenig. Leider stellen die Menschen im Alter gerade jene sportlichen Aktivitäten ein, bei denen sie koordinativ herausgefordert werden. Diese betreiben sie von Jahr zu Jahr weniger und zuletzt sieht man sie, wenn überhaupt, nur (koordinativ anspruchslos) Walken, Radfahren oder Laufen im Park.
Wenn man sich von der Agewell-Studie erhoffte, dass alte Menschen, speziell wenn sie erste Anzeichen von Demenz verspüren, zu Tanzen, Gleichgewichtsübungen, Tischtennis und zu Koordinativsportarten animiert würden, wird man leider enttäuscht. Die Macher der Studie legten den Schwerpunkt auf gesundes Leben, das für geistige Gesundheit wichtig ist, aber im Alter als Ratschlag zu spät kommt, weil die neuronalen Schäden längst weit fortgeschritten sind.
Die renommierte FINGER-Studie ist der Hoffnungsträger für die Demenzprävention und deren Ergebnisse werden allgemein als Empfehlungen ausgegeben, wie der Alterskrankheit beizukommen wäre. Die Studie belege erstmals, so die Fachleute, gesund leben, verbunden mit intensivem Sport und regelmäßigen Denkaufgaben wirken dem geistigen Abbau entgegen. Teilgenommen haben 1.260 ältere Menschen, sie waren zwischen 60 und 77 Jahre alt. Sie hatten zu Beginn der Studie ein leicht erhöhtes Demenzrisiko, waren in Kognitionstests eher “unterdurchschnittlich” und die Cholesterinwerte, Diabetes und Herzkrankheiten waren teilweise sogar ausgeprägt erhöht. Link zur Studie:
Bei dieser Studie zwischen 2009 und 2011 haben die Forscher erstmals einen multimodalen Ansatz zur Demenzprävention gewählt, bei dem sich die Teilnehmer verpflichteten, sich gesünder zu ernähren, sich mehr zu bewegen, auf die kardiovaskulären Risikofaktoren (Neigung zu Herzerkrankungen) zu achten und zuletzt auch noch Gedächtnisübungen zu machen.
“Mehr geht nicht”, könnte man sagen. Die Studienmacher haben ihre Probanden für zwei Jahre zu allem verpflichtet, was man bis dahin zur Demenzprophylaxe als wirksam erachtete. Und was die Studie besonders auszeichnet, es war eine sogenannte „randomisiert-kontrollierte Studie“ und nicht bloß eine epidemiologische (beobachtend) Untersuchung. Randomisiert ist ein Studie, bei der die Teilnehmer für eine bestimmte Zeit danach leben müssen, epidemiologisch ist eine Untersuchung, bei der sie im Prinzip nur befragt werden.
Wenn man die Studie liest und sich dabei die Frage stellt, welche Art der Bewegung von den Teilnehmern gefordert wurde, dann fällt, wie bei allen ähnlich gelagerten Studien, auf, dass das Fitness-Modul aus einem “individuell angepassten Training zur Stärkung der Muskulatur (ein- bis dreimal wöchentlich) sowie Ausdauerübungen im gemäßigten aeroben Bereich zwei- bis fünfmal pro Woche” bestand. Wiederum haben die Teilnehmer also “nur” ihre körperliche Fitness trainiert.
Was lässt sich nun aus diesem bisher einzigartigen Experiment schließen? Immerhin haben sich die kognitiven Leistungen “im Schnitt verbessert”. Die absoluten Veränderungen waren allerdings, wie nicht anders zu erwarten, recht gering und das erstaunlichste Ergebnis war, dass überhaupt messbare Unterschiede festgestellt wurden.
Erneut koordinativ anspruchsloser Ausdauersport!
Für die Frage der Demenzvermeidung im Alter hätte die Studie eine wichtige Unterscheidung treffen müssen: die Faktoren gesunde Ernährung, kognitives Training (Rätsel lösen etc.) und die Behandlung von vaskulären Risikofaktoren haben im Gehirn eine andere Wirkung als regelmäßige körperliche Betätigung. Während erstere „nur“ verhindern, dass das Gehirn geschädigt wird, können körperlich fordernde Aktivitäten Schäden reparieren. Leider haben die Macher der Studie den Teilnehmern für das Fitness-Modul Bewegung keine koordinativ anspruchsvollen sportlichen Aktivitäten abverlangt. Und so war auch das Ergebnis: ihre geistige Fitness blieb fast unverändert.
Die Schulschwestern von Notre Dame wurden nach ihrem Leben befragt, um Antwort darauf zu finden, warum sie trotz massenhafter Eiweißablagerungen im hohen Alter nicht dement waren. Einen Schritt weiter gehen neuere Studien. Sie untersuchen, ob Bewegung im Alter Demenz aufhalten kann.
Sie greifen damit genau die Frage auf, die für ältere Menschen heute enorm wichtig ist: was kann ich tun, um geistig gesund zu bleiben? Und ganz speziell: auf welche Art muss ich mich bewegen, um geistig fit zu bleiben? Studien, zuletzt 2019 von der Sporthochschule Köln, versuchen den Nachweis zu liefern, dass bei leichter kognitiver Beeinträchtigung im Alter durch regelmäßiges Ausdauertraining die Demenz verhindert bzw. verzögert werden kann.
Altersgemäß?
Die Studie unterscheidet zwischen sportlicher Betätigung im aeroben und im anaeroben Bereich. Von den Teilnehmern verlangen die Macher der Studie Ausdauertraining im moderaten Bereich, weil sich dabei der Körper stets ausreichend mit Sauerstoff (aerob) versorgt. Aerobes Training findet also in gemäßigtem Tempo statt und wurde für die Studie zur „Demenzvermeidung durch Bewegung“ ausgewählt, weil es als die für ältere Menschen gemäße Bewegungsform angesehen wird.1
1 Im anaeroben Bereich erfolgt die Energiegewinnung ohne Sauerstoff. Dabei wird Glukose durch einen Prozess namens Milchsäuregärung abgebaut, um Energie zu erzeugen. Dies geschieht, wenn die Sauerstoffzufuhr nicht ausreicht, um den Energiebedarf der Muskeln zu decken, wie es bei intensiven, kurzen Belastungen der Fall ist.
Warum Ausdauertraining?
Ausdauertraining wurde als die wahrscheinlich effektivste Form der Übung genommen, weil die Teilnehmer damit ihre körperliche Fitness und das seelische Wohlbefinden steigern und so auch für den geistigen Bereich langfristig die besten Ergebnisse erzielen würden. So zumindest die irrige Annahme der Studie. 180 Personen mit amnestischer MCI (Anzeichen beginnender Demenz) waren beteiligt und einem 12-monatigen Training unterworfen. Drei mal pro Woche mindestens 45 Minuten Ausdauertraining war vorgegeben. Für die Vergleichsgruppen wurden Dehn- und Muskelaufbauübungen bzw. eine Kontrollgruppe ohne körperliche Betätigung genommen.
Warum von den Probanden Ausdauer- statt geistig anspruchsvollem Koordinativsport verlangt wurde, bleibt das Geheimnis der Sporthochschule. Allerdings befinden sich die Macher der Studie damit im Einklang mit allen weltweit zu diesem Thema durchgeführten Forschungsstudien. Das Ergebnis nach Ablauf der Studie war ernüchternd: Sport ist gut für Herz-Kreislauf, für die Seele und regt an, sich mehr am allgemeinen Leben zu beteiligen. Ob es aber etwas für’s Gehirn gebracht hat, darüber hat die Studie keine nennenswerten Ergebnisse liefern können.
Ausdauersport für die Hirngesundheit zu empfehlen, ist so abwegig wie regelmäßiges Hände waschen für die Zahngesundheit
Kritik: Geistige Fitness ist nicht auf die leichte Art zu erhalten
Wenn man bedenkt, wie viel die Menschen in Deutschland rauchen und Alkohol trinken, was sie essen, wie wenig sie sich bewegen und welchem Stress sie im Arbeitsleben ausgesetzt sind, dann kann man nur den Schluss ziehen, dass in Deutschland heute das ungesunde Leben und folglich entsprechende Schädigungen in den Netzen älterer Menschen das Normale ist. Und so ist es geradezu eine fahrlässige Irreführung, wenn aus berufenem Munde geraten wird, drei Mal die Woche mit Stöcken zu walken oder auf geebneten Wegen zu laufen. Geistige Fitness nach einem ungesund geführten Leben ist eben nicht auf die leichte Art zu erhalten. So muss man sich nicht wundern, wenn zuletzt die Hälfte der 90-Jährigen in Deutschland unter Alzheimer leidet.