Einleitung


Wenn Vergesslichkeit zur Warnung wird

Millionen Menschen in der Vorstufe einer Demenz – dem sogenannten Mild Cognitive Impairment (MCI) – fühlen sich alleingelassen. Die ersten Anzeichen schleichen sich meist unbemerkt ein: Vergesslichkeit, Schwindel, nachlassende Beweglichkeit. Oft werden sie als harmlose Alterserscheinungen abgetan. Doch wer die Warnsignale ignoriert oder sich mit pauschalen Ratschlägen wie „gesund leben“ oder „mehr bewegen“ zufriedengibt, verpasst womöglich die letzte Chance, den Weg in die Demenz zu stoppen.

Dabei gibt es einen Weg zurück – beschwerlich, aber lohnend. Er führt nicht über Medikamente, sondern über gezielte, koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten, mit denen sich das Gehirn regenerieren kann. Diese Ausarbeitung zeigt, warum herkömmliche Empfehlungen wie einfaches Ausdauertraining zu kurz greifen – und wie Betroffene durch vielseitige Bewegung ihre geistige Leistungsfähigkeit neu beleben können.

Widerspruch zu den Empfehlungen der WHO

Regelmäßige Bewegung gilt als Schlüssel zu körperlicher und geistiger Gesundheit. Gerade im Alter raten Gesundheitsbehörden und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu regelmäßigem, moderatem Ausdauertraining. Doch an dieser Empfehlung gibt es Widerspruch.

Der Neurologe Prof. Dr. Peter Rieckmann und der sportlich engagierte Ruheständler Ulrich Scheuerl argumentieren: So einfach ist es nicht. Wenn das Gehirn bereits geschädigt ist und erste kognitive Einbußen auftreten, reicht ein dreistündiges Ausdauertraining pro Woche nicht aus – es ist zu wenig und zu einseitig. Um zu verstehen, warum das so ist, haben sie die Wirkung der fünf Bewegungsarten untersucht – von Ausdauer über Kraft bis hin zu koordinativ komplexen Aktivitäten.

Was macht eine Aktivität „koordinativ anspruchsvoll“?

Bewegung erfordert immer Koordination – doch nicht jede fordert das Gehirn gleichermaßen. Während routinierte Abläufe wie Dehnen, Krafttraining oder Gehen kaum geistige Anstrengung verlangen, wird das Gehirn bei komplexen, unvorhersehbaren Bewegungen stark gefordert. Entscheidend sind Neuigkeitsgrad und Komplexität.

  • Geringe Herausforderung: vorhersehbare, monotone Abläufe wie Spazierengehen oder Training an Geräten – das Gehirn läuft auf „Autopilot“.
  • Hohe Herausforderung: Bewegungen, die Gleichgewicht, Timing, räumliche Orientierung und Feinmotorik gleichzeitig verlangen.

Beispiele:

Selbst Backen fordert Konzentration, Präzision und Kreativität – vom Abmessen bis zum kunstvollen Verzieren. Beim Tanzen müssen Schrittfolgen, Rhythmus und Partnerbewegungen koordiniert werden. Beim Tischtennis berechnet das Gehirn fortlaufend Ballflug, Schlägerführung und Körperposition. Beim Jonglieren werden Augen-Hand-Koordination und Reaktionsvermögen trainiert. Wandern im unwegsamen Gelände stärkt Gleichgewicht und Balance.

Warum solche Aktivitäten so wertvoll sind

Das Gehirn ist wie ein Muskel: Es wächst nur, wenn es gefordert wird. Bei Kindern ist das offensichtlich – beim Laufenlernen entstehen neue neuronale Verbindungen. Doch auch im Alter lässt sich das Gehirn neu vernetzen, solange es mit ungewohnten Aufgaben konfrontiert wird.

Sobald eine Bewegung zur Routine wird, lässt der Trainingseffekt nach. Der Schlüssel liegt also im ständigen Neulernen: Ob man als Senior*in erstmals jongliert oder nach Jahrzehnten wieder Tischtennis spielt – jedes neue Bewegungsmuster wirkt wie ein Update für das Gehirn.

Was die Forschung zeigt – und was noch fehlt

Bewegung als Schutz vor Demenz ist gut untersucht. Es gibt zwei Hauptlinien der Forschung:

  1. Ausdauerstudien, etwa die bekannte FINGER-Studie.
  2. Einzelstudien zu spezifischen Aktivitäten wie Tanzen, Yoga, Tischtennis, Jonglieren oder Klavierspielen.

Alle zeigen positive Effekte – doch jede Aktivität allein kann Alzheimer nur geringfügig verzögern. Was fehlt, sind Langzeitstudien, die das Zusammenwirken mehrerer koordinativ anspruchsvoller Aktivitäten untersuchen. Eine solche gibt es bisher weltweit nicht.

Was es braucht, ist eine Studie mit Teilnehmern, die sich verpflichten, regelmäßig und vielseitig anspruchsvoll aktiv zu sein – ein echtes „Zehnkampfprogramm gegen Demenz“.

Ist Demenzvermeidung ein Zehnkampf?

Für Ulrich Scheuerl waren die bisherigen Studienergebnisse unbefriedigend – besonders angesichts der stetig steigenden Demenzzahlen. Gemeinsam mit Prof. Dr. Rieckmann kam er zu der Überzeugung: Statt nur die Ausdauer zu trainieren, muss man vielseitig aktiv werden – nicht eine, nicht zwei, sondern möglichst viele unterschiedliche koordinative Aktivitäten regelmäßig ausüben.

Millionen von der Vorstufe Demenz (MCI) betroffen!

Alzheimer entwickelt sich in drei fließenden Phasen. Auf ein jahrzehntelang ungesundes Leben folgt die Vorstufe MCI, bevor die Krankheit in die unumkehrbare Demenz übergeht. Doch der Weg ist nicht zwangsläufig vorgezeichnet. Von MCI kann man zurückkehren – zu einem Leben mit geistiger Klarheit. Voraussetzung: Man erkennt die Warnzeichen und nutzt gezielt die Chancen der Neuroplastizität, der Anpassungsfähigkeit des Gehirns.

MCI (Mild Cognitive Impairment) ist der Fachbegriff für „leichte kognitive Störungen“ und meint nichts anderes als erste Anzeichen von Demenz. Ursache dafür ist ein Jahrzehnte lang sorglos geführtes Leben und typische Anzeichen sind Orientierungsstörungen, häufige Schwindelgefühle, verminderte Beweglichkeit, Vergesslichkeit oder Wortfindungsstörungen.

Wer sich zeitlebens gesund ernährt, Stress vermieden und sich ausreichend bewegt hat, den braucht das Thema Alzheimer erst einmal nicht zu bekümmern. Viele können das aber nicht von sich sagen. Und die Hälfte derer, die im Alter von beginnender Demenz betroffen sind, wird sich, wie die Statistik zeigt, in den Folgejahren in Betreuung begeben müssen. Dass sich die Gesellschaft und erst recht die alten Menschen heute damit abfinden, sollte nicht sein, denn wenn sich die Vorzeichen zeigen, kann man durchaus noch etwas machen. Etwas machen, das heißt die Möglichkeiten zu nutzen, was Neurologen mit dem wissenschaftlichen Ausdruck „Neuroplastizität“ bezeichnen.

Neuroplastizität – das formbare Gehirn

Unter Neuroplastizität versteht man die Fähigkeit des Gehirns, sich strukturell und funktionell zu verändern – ein Leben lang. Das neuronale Netzwerk passt sich neuen Anforderungen an.

Dabei unterscheiden Forscher zwei Formen: Sportinduzierte Neuroplastizität – sie wird bewusst durch gezielte, komplexe Bewegung aktiviert und kann gezielt zur Demenzprävention eingesetzt werden. Alltägliche Neuroplastizität – sie geschieht unbewusst durch neue Erfahrungen und Lernprozesse.

Viele bewegen sich – aber zu einseitig

Viele ältere Menschen sind durchaus aktiv, jedoch meist monoton: Die einen radeln zehntausende Kilometer, andere laufen täglich oder schwimmen regelmäßig. Doch das Gehirn braucht Vielseitigkeit, um all seine Netzwerke zu erhalten. Nur wenn verschiedene Bewegungsarten regelmäßig trainiert werden, bleiben die neuronalen Schaltkreise in allen Regionen funktionsfähig.

Man spürt den Unterschied

Ob Bewegung Alzheimer tatsächlich verhindern kann, ist wissenschaftlich noch nicht belegt – doch sie macht sich bemerkbar. Wer Fortschritte spürt, wer Bewegungen von mal zu mal leichter und präziser ausführt, der aktiviert genau jene Netzwerke, die das Gehirn gesund halten.

Und gelingt das bei vielen unterschiedlichen Aktivitäten, darf man mit gutem Recht sagen: Meine neuronalen Netze sind intakt – mein Gehirn ist gesund.

Nachfolgend wird in sechs Abschnitten mit 70 Beiträgen und vielen Bildern anschaulich gemacht, dass geistige Fitness im Alter möglich ist. Motivation stets vorausgesetzt.

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Ein Praktiker der Bewegung und ein Kenner des Gehirns

Ulrich Scheuerl, Bad Reichenhall

„Gemäßigter Ausdauersport kann Demenz vermeiden!“ Mit dem Zweifel daran, dass dieser Ratschlag stimmt, begannen die Arbeiten zu dem vorliegenden Buch. Radeln, Laufen und Wandern sollten reichen, wenn man nach einem sorglos geführten Leben geistig gesund bleiben will. Wo bleibt da das Gehirn? Die Antwort auf die Frage, wie das Gehirn gesund bleiben kann, will das vorliegende Buch liefern.

Ulrich Scheuerl begann im Alter von 65 Jahren seine sportlichen Aktivitäten von Ausdauersport auf Koordinativsport umzustellen. Gleichzeitig begann er Studien dahingehend zu lesen, wie man im Alter durch Bewegung Demenz vermeiden könnte. In all den Studien wurde einheitlich untersucht, ob man durch „altersgerecht“ ausgeübten Ausdauersport Demenz verzögern kann. In keiner der Studien wird ausgeführt oder auch nur untersucht, ob man sich im Alter mit vielfältiger und koordinativ fordernder Bewegung geistig fit halten kann.

Genau das war der Ansatz, den Ulrich Scheuerl vor rund fünf Jahren gewählt hat und seine praktischen Erfahrungen mit jenen Aktivitäten, von denen er sich Hirngesundheit erwartet, wurden für den vorliegenden Erfahrungsbericht aufgeschrieben. „Wenn ich Menschen motivieren kann, solchermaßen aktiv zu werden, wäre das ein erfreuliches Ergebnis“, so der Autor.

1953 in Bad Reichenhall geboren, hat er zeitlebens hier gewohnt und gearbeitet. Beruflich war er 40 Jahre lang stets am Schreibtisch einer Bank tätig. Da er „normal“, also eher ungesund gelebt hat und die neuronalen Schaltkreise vermutlich geschädigt sind, beschäftigt er sich seither mit dem Thema „Alzheimer“ und hat sich vorgenommen, durch sportliche Aktivitäten, möglichst zusammen mit Gleichgesinnten, geistig vital zu bleiben.

Prof. Dr. Peter Rieckmann, Bad Reichenhall

Prof. Dr. Peter Rieckmann ist Jahrgang 1961, verheiratet und dreifacher Vater. Nach dem Medizinstudium in Göttingen mit Studienaufenthalten in Bombay und London erfolgte 1988 seine Approbation als Arzt und 1995 als Facharzt für Neurologie.

Weitere Stationen seines beruflichen Werdegangs sind eine Postdoktorandenzeit am National Institut of Health (NIH) in USA in der Arbeitsgruppe des früheren Präsidentenarztes Dr. Antony Fauci sowie seine Spezialisierung in der Neuroimmunologie als Oberarzt in der Neurologie des Universitätsklinikum Würzburg bei Prof. Dr. Klaus Toyka. Er arbeitete am Aufbau des „Center for Brain Health” an der Universität von British Columbia in Vancouver/Kanada mit sowie am Aufbau des ersten Deutschen Herz-Hirn-Zentrums in Bamberg, welches er auch leitete. Aufbauarbeit leistete Prof. Dr. Peter Rieckmann auch beim Zentrum für klinische Neuroplastizität mit der Einführung der digitalen Erfassung funktionell relevanter Erfolgsparameter in Kooperation mit der Technischen Universität München. Prof. Dr. Rieckmann wurden im bisherigen Verlauf seines Werdegangs zahlreiche Preise und Auszeichnungen verliehen und es sind von ihm 294 medizinische Publikationen erschienen. Zuletzt war er als Chefarzt in einer Fachklinik für Neurologie im Berchtesgadener Land tätig.


Die Autoren Ulrich Scheuerl und Dr. Peter Rieckmann sind überzeugt: im Alter sollte man aktiv sein und speziell mit Übungen für Koordination und Balance ist es möglich, geistig gesund zu bleiben. Egal ob man gesund gelebt, oder aber seinen grauen Zellen einiges zugemutet hat.


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Vorwort der Autoren:


Kann man das Thema Demenz verbunden mit Optimismus und Gelassenheit ansprechen? Man kann! Mit allgemein verständlichen Beiträgen und vielen Bildern wollen wir anschaulich darstellen, dass all jene, die Demenz als eine unvermeidbare Alterskrankheit bezeichnen, Unrecht haben. „Demenz ist vermeidbar“ lautet deshalb auch der Titel dieses Internetauftritts.

Zugegeben, Alzheimer, wie die altersbedingte Form der Demenz bezeichnet wird, zu vermeiden, ist eine Herausforderung, der man sich stellen muss. Nur wenn man bereit ist, sich umfassend zu informieren und sich täglich motiviert, körperlich aktiv zu bleiben, dann ist es möglich, der gefürchteten Krankheit etwas entgegen zu setzen. Immerhin zeigen neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, das durch Lebensstilanpassungen bis zu 50 % der Demenzen vermeidbar sind und durch anspruchsvolle Bewegung sind, wie das vorliegende Heft zeigen will, Erfolge noch darüber hinaus möglich.

Bislang gilt Demenz weder als ursächlich behandelbar noch als heilbar. Trotzdem, der vorliegende Ratgeber will das Thema mit Zuversicht darstellen und dafür auch die notwendigen Informationen liefern. Im Alter geistig gesund bleiben ist möglich!

Ulrich Scheuerl – Dr. Peter Rieckmann


Zuallererst:
Macht Euch ehrlich!

Alzheimer zu verhindern beginnt damit, dass man sich die Anzeichen der Krankheit ehrlich eingesteht. Eigentlich sind sie allgemein bekannt, aber sie werden verdrängt und ignoriert: „Schwindelgefühle, mal einen Termin versemmeln oder Gleichgewichtsprobleme haben, das ist doch im Alter ganz normal“. So aber ist es nicht.

Wenn Warnsignale sich zeigen, dann sollte man aktiv werden. Ansprechpartner sind der Hausarzt oder ein Neurologe. Die veranlassen das Weitere. Die Untersuchungen sind heute zuverlässig und zeigen genau, ob es noch normal ist oder es schon die Vorzeichen der Demenz sind. Viele spüren es zumeist schon selber, dass etwas nicht stimmt. Leider machen sie dann aber oft das Falsche und werden einseitig aktiv.

Entweder sie gehen regelmäßig Schwimmen oder täglich zum Walken oder sie radeln im Jahr 10.000 Kilometer. Besser wäre es, sich damit auseinanderzusetzen und sich zu informieren, welchen Arten von Bewegung welche Wirkung haben. Jede Art ist gesund aber nur ganz bestimmte davon sind besonders geeignet, das Gehirn fit zu halten.

Geistig gesund zu bleiben ist möglich, vorausgesetzt man macht sich rechtzeitig ehrlich.

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