Bewegungsdrang und innerer Schweinehund
A. Die „Sehnsucht“ des Neurons sich zu verbinden
Bei der Geburt verfügen Kinder über eine große Anzahl an Nervenzellen (Neuronen), aber die Verbindungen zwischen diesen Zellen (Synapsen) sind noch nicht vollständig ausgebildet. Durch Bewegung und die sinnlichen Erfahrungen bilden sich diese Verbindungen im Gehirn. Diese Prozesse, bekannt als Synaptogenese und Neuroplastizität, sind entscheidend für die kognitive und motorische Entwicklung.

Erst einmal nutzlos
Schon bei der Geburt sind die 80 Milliarden Nervenzellen im Gehirn angelegt. Allerdings sind sie nicht verbunden und erst einmal nutzlos für die Wahrnehmung, das Nachdenken oder die Bewegung des Neugeborenen. Aber jedes unverbundene Neuron hat den inneren Drang sich zu verbinden und dieser Drang mit 80 Mrd. multipliziert signalisiert dem Kind „beweg dich“.
Genannt wird dieses Phänomen als „natürlicher Bewegungsdrang des Kindes“: er ist nichts anderes als das, was die Neuronen, wenn sie noch unverbunden sind, benötigen: Bewegung. Erst die Bewegung ist es, die das Kind später befähigt, sportlich aktiv zu sein und geistige Leistungen zu vollbringen.

Lassen wir sie toben, klettern, raufen
Als Babys noch gänzlich unbeholfen, wollen sie es schon bald instinktiv den anderen Kindern gleichtun. Wenn man aufzählt, was sie sich in der Krabbelgruppe und später auf den Spielplätzen alles aneignen, kommt man schnell auf viele, typische Aktivitäten:
Aufstehen, Gehen, Fallen, Aufstehen, Laufen, Steigen, Rutschen, Schaukeln, Trampolin springen, Klettern, Balancieren, Radeln, Skaten, Hula Hoop, Fußball, Purzelbaum schlagen und was noch alles mehr. Alles wollen sie unbedingt können und machen es so lange, bis sie es beherrschen.
Kinder haben einen angeborenen Drang, sich zu bewegen, um ihre Umwelt zu erkunden und ihre motorischen Fähigkeiten zu entwickeln. Diese Bewegungen fördern die Synaptogenese, indem sie neue neuronale Verbindungen schaffen.
B. Die Vorsicht des geschädigten neuronalen Netzes vor komplexer Bewegung
Im Alter lässt der Bewegungsdrang bekanntlich nach und es stellt sich die Frage, gibt es neben dem Bewegungsdrang des Kindes auch einen Drang zur Vermeidung von Bewegung bei den Alten? Wenn also aus dem inneren Gehirns nicht jene Signale ausgesandt werden, die das Kind zur Aktivität antreibt, sondern solche zur Vermeidung von Bewegung.
Vorstellbar ist, dass im Alter von geschädigten neuronalen Netzen, verbunden mit dem nachlassenden Gleichgewichtssinn und schwindenden Muskeln dem Körper aufgegeben wird, Bewegung im Allgemeine und komplex zu koordinierende Bewegungen im Besonderen tunlichst zu vermeiden. Geschädigte Netze melden demnach dem Körper instinktiv, jene Aktivitäten zu meiden, die es nicht mehr sicher auszuführen vermag.
Rein bewegungstechnisch gesehen ist das Leben nichts weiter, als eine stetige Transformation, ausgehend vom Bewegungsdrang des Kindes hin zum inneren Schweinehund im Alter.
Das Unterbewusstsein im Konflikt
Im Alter ist es jedes mal eine Überwindung, sich sportlich zu betätigen und es stellt sich die Frage, warum das eigentlich so ist. Eine Begründung auf diese Frage kann man im Unterbewusstsein finden, denn ob und wie wir uns bewegen, hängt sehr von ihm ab. Und für das Unterbewusstsein wiederum hat jede einzelne Nervenzelle einen Einfluss je nach dem in welchem Zustand sich das Neuron befindet: Wenn die Nervenzelle heil und unverbunden ist, dann signalisiert sie dem Unterbewusstsein, „beweg’ dich“, wenn sie heil und im neuronalen Netz eingebunden ist, signalisiert sie „ich wäre bereit zur Bewegung“. Wenn Nervenzelle aber durch Plaques zerstört sind, dann signalisieren sie „halt’ still“.

Im Zweifel für den Körper
Das Unterbewusstsein ist sozusagen im Konflikt zwischen dem Erhalt körperlicher und dem Erhalt geistiger Gesundheit und in der Regel entscheidet man sich im Alter für den Körper (Sturzvermeidung) und gegen den Geist. Die Folgen sind bekannt: nur wenige alte Menschen betätigen sich körperlich anspruchsvoll und die steigenden Zahlen pflegebedürftiger alter Menschen sprechen Bände.
Um geistige Gesundheit im Alter zu erhalten, bedarf es also nichts weniger als sich täglich entgegen seinem Unterbewusstsein aufzuraffen und sportlich aktiv zu werden. Für den inneren Schweinehund gilt nämlich auch umgekehrt, dass durch Bewegung die Muskeln so gestärkt werden und der Gleichgewichtssinn so erhalten bleibt, dass im Alter viele noch gerne Sport treiben. Schweinehund hin oder her.
So wie man Kinder anhalten muss, auch einmal still zu sitzen, muss man sich im Alter aufraffen, sich zu bewegen