2-7. Was ist Neuroplastizität?

Ist das Gehirn formbar wie Plastilin?

Neuroplastizität ist der unbedingte Wille des Gehirns, Bewegung zu ermöglichen. Sie bewirkt die Erneuerung geschädigter Netzverbindungen durch Herstellung neuer Verbindungen um so die Funktionsfähigkeit des Schaltkreises zur Ausübung eines Bewegungsablaufs zu erhalten und diese Wirkweise ermöglicht geistige Gesundheit im Alter, auch nach einem sorglos und oftmals ungesund geführten Lebens.

Der wissenschaftliche Ausdruck „Neuroplastizität“ bezeichnet zunächst nur jenes Phänomen, das sich in den Gehirnen eines jeden Lebewesens tagtäglich beobachten lässt. Wortwörtlich könnte man es mit „Formbarkeit des Nervensystems“ übersetzen. Das riesige neuronale Netzgeflecht lässt sich demnach jederzeit den erforderlichen Gegebenheiten anpassen (formen). Bei rein kognitiven Gehirnaktivitäten findet keine Neuroplastizität statt. (siehe auch Wikipedia: Neuronale Plastizität)

Und welche Erforderlichkeiten das sind, entscheidet sich an Hand der Lebenssituation jedes Einzelnen. Ob das Kleinkind gehen oder der Mensch im Alter Tanzschritte lernen will, das Hirn “formt” die Schaltkreise entsprechend. Und mehr noch: “Das Gehirn ist nicht nur in der Lage, sich neu zu verdrahten, dies ist sogar seine normal Funktionsweise”. (Zitat: Norman Doidge, Neustart im Kopf, Campus-Verlag)

Jahrhundertelang galt das Gehirn als ein nicht wandelbares Organ. Waren die Schaltkreise nach der Kindheit erst einmal gebildet, gab es für deren Funktionsfähigkeit nur noch eine Richtung: abwärts! Für die Wissenschaft galt es als reine Zeitverschwendung, das System und deren Arbeitsweise auch nur zu untersuchen, bis es dann in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts doch einmal jemand versuchte.


Erst einmal nur belächelt

Der US-Naturwissenschaftler Paul Bach-y-Rita und andere begannen in den Sechzigern des letzten Jahrhunderts, das Phänomen des wandelfähigen Gehirns zu erforschen und schufen dafür den Ausdruck „Neuroplastizität“. Für ihre Untersuchungen und den neuen Begriff wurden sie von den Kolleg*innen erst einmal nur belächelt.


Zwei Jahrzehnte später war das Phänomen eingehend untersucht und in der Wissenschaft so weit anerkannt, dass mit der praktischen Anwendung bei Menschen mit geschädigten Hirnregionen begonnen werden konnte. So wurde in den achtziger Jahren der Anwendung der Erkenntnisse aus der Neuroplastizität Tür und Tor geöffnet und natürlich waren es zuerst die Nachsorgeeinrichtungen von Schlaganfallpatienten, die sich der Möglichkeit bedienten, das Gehirn im positiven Sinne zu manipulieren.


Heute, also noch einmal drei Jahrzehnte später haben die Rehaeinrichtungen aus ihrer täglichen Praxis mit den Patienten beste Erfahrungen mit der Erneuerung geschädigter Gehirne und wenn man sich als interessierter Laie mit dem Thema Alzheimer befasst, wird man früher oder später davon fasziniert sein, welche Fähigkeiten unser Gehirn hat, bedarfsangepasst weiter fit und gebrauchsfähig zu bleiben.


Unter dem Begriff Neuroplastizität versteht man die Fähigkeit des Gehirns, seinen Aufbau und seine Funktionen so zu verändern, dass es optimal auf neue äußerliche Einflüsse und Anforderungen reagieren kann. Dabei werden beispielsweise neue Verbindungen zwischen einzelnen Nervenzellen (Synapsen) gebildet. Dies ermöglicht die Interaktion mit unserer Umwelt und unterstützt Lernvorgänge aller Art. Dank der Neuroplastizität des Gehirns können wir Instrumente und Sprachen erlernen oder uns neue Bewegungsabläufe antrainieren, um in sportlichen oder handwerklichen Tätigkeiten besser zu werden. Doch auch bei der Regeneration des Gehirns nach akuten Schädigungen spielt Neuroplastizität eine wichtige Rolle: Nur so können verlorene Fähigkeiten wiedererlangt werden.

1. WIE WIRKT SICH NEUROPLASTIZITÄT AUF DIE REHABILITATIONNACH EINEM SCHLAGANFALL AUS? Das menschliche Gehirn kann nachweislich bis ins hohe Alter wandlungs- und anpassungsfähig bleiben. Diese Fähigkeit zur Neuroplastizität sorgt dafür, dass Funktionen wiedererlangt werden können, die zum Beispiel durch einen Schlaganfall oder eine Hirnerkrankung verloren gegangen sind. Nach einer Schädigung des Gehirns wird deshalb möglichst schnell durch spezielle Therapieansätze versucht, die Neuroplastizität des Gehirns anzuregen und die Regeneration geschädigter Nervenzellen zu unterstützen.

2. WIE KANN NEUROPLASTIZITÄT IN DER SCHLAGANFALL-REHA GEFÖRDERT WERDEN? Aktivierung der Neubildung von Nervenzellen: Untersuchungen ergaben, dass die Entstehung von neuen Nervenzellen im Gehirn besonders durch körperliche Betätigung gefördert werden kann. Über 80 Prozent der Leistungsfähigkeit des Gehirns können direkt durch sportliche Aktivitäten beeinflusst werden. Hierbei empfehlen sich regelmäßige und zielgerichtete Bewegungsübungen, mit welchen möglichst frühzeitig nach dem Schlaganfall begonnen werden sollte. Schutz der Nervenzellen auf dem Weg in geschädigte Hirnregionen: Bei einer akuten Hirnschädigung machen sich neugebildete Nervenzellen auf den Weg in das betroffene Gewebe. Allerdings sterben die meisten dieser Zellen nach kurzer Zeit wieder ab. Um dies zu verhindern, werden in der Schlaganfall-Reha Medikamente eingesetzt, die für möglichst günstige Bedingungen sorgen, damit neue Nervenzellen erfolgreich in geschädigte Hirnregionen integriert werden können. Förderung neuer Nervenverbindungen: Die gezielte Integration von neuen Nervenzellen in geschädigte Bereiche des Gehirns kann auch durch gewissenhaftes Üben gefördert werden. Zeigt ein Patient beispielsweise Lähmungserscheinungen an einer Hand, so wirkt sich regelmäßiges Fingertraining positiv auf die Neuroplastizität aus. Dabei ist besonders die Frequenz der Übungen entscheidend. Erst ab etwa hundert Wiederholungen kann mit der Ausbildung neuer Synapsen gerechnet werden. Allerdings kann auch schon die bloße Vorstellung der auszuführenden Bewegung Effekte erzielen. Verfestigung der neu gebildeten Synapsen: Die neu gebildeten Nervenverbindungen werden besonders in passiven Ruhephasen gestärkt. Deshalb tragen die Reduktion von Stress, unterschiedliche Entspannungsübungen und erholsamer Schlaf wesentlich zum Rehabilitationserfolg bei. In klinischen Studien führt auch der tägliche Hörgenuss von selbst gewählter Musik zu einer signifikanten Verbesserung der gemessenen Neuroplastizität.


Grundpfeiler dieses Konzepts sind fünf Komponenten: Die Grundpfeiler der Neuroplastizität: 1. Motivation (ein fester Wille) 2. Repetition (täglich/wöchentlich im Rhythmus) 3. Stimulation (ein/e SportsfreundIn) 4. Fitness (Ausdauer, Kraft und Beweglichkeit) 5. Konsolidierung (Schlaf).


Das Gehirn ist eigentlich eine feste (gallertartige) Masse. Aber das Geistige, das darin stattfindet, gleicht eher einem luftigen Seidentuch. Und so wie ein Tuch sich mit mit jeden Lufthauch verändert, so verändert sich auch das Geistige, wenn es vom sich bewegenden Körper Impulse bekommt. Möglichst jene Impulse, die durch koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten entstehen

Ist dann die Demenz nicht ein überschaubares Problem? Für jedes Plaque einen winzigen Bypass

Für das Problem der Altersdemenz sind die Erkenntnisse aus der Praxis der Schlaganfalltherapie von besonderer Bedeutung. Die Herausforderungen, die Folgen eines Schlaganfalls zu beheben oder zumindest zu lindern, sind riesengroß. Wie es gelingen kann, ist den Kliniken bekannt und die Therapeuten kommen zu einem eindeutigen Schluss: nur gezielte Bewegung und hoch frequentes Üben können helfen. Anderes, wie gesunde Ernährung, gemeinsames Singen oder Rätsel lösen ist hilfreich, aber entscheidend für den Erfolg der Therapie sind die individuell zusammengestellten Trainingseinheiten mit komplexer Bewegung. Und diese Erkenntnisse bei der Schlaganfallbehandlung zeigen eindrucksvoll, wie viele Möglichkeiten der Reorganisation auch das geschädigte Gehirn noch aufbringen kann.


Demenz ist demgegenüber eigentlich ein überschaubares Problem: Während beim Schlaganfall ein relativ großer Bereich betroffen ist und ganze Areale des neuronalen Netzes zerstört sind, sind es bei Alzheimer nur winzige Eiweißablagerungen in den unterschiedlichsten Regionen, die immer nur verhältnismäßig wenige Nervenzellen zerstören. Allerdings, auch wenige Lücken im Netz können, je nach dem, in welchem Areal des Gehirns sie auftreten, schon begrenzt Schäden verursachen und in Summe im Großhirn Schwierigkeiten beim Denken, bei der Orientierung oder Handlungsplanung verursachen.


Wie findet das Hirn die winzigen Störungen im Netz?


Für das Gehirn ist es möglich, die geschädigten Bereiche auszumachen. Hierzu gibt es eine bestimte Zellgruppe, die sog. Mikroglia fungiert gleichsam als eine „Polizei“ im Gehirn, die geschädigte Areal aufspürt, sie zunächst versucht zu isolieren und dann zu reparieren und mit Hilfe anderer Zellen zu erneuern. Fündig wird es, indem man sich auf komplex zu koordinierende Arten zu bewegen versucht. Wenn man sich bewegt und es klappt ohne weiteres, dann ist das Netz, das für den Ablauf dieser Bewegung “zuständig” ist, in Takt. Wenn es aber ein Bewegungsablauf ist, bei dessen Ablauf es nicht so gut klappen will, dann sind die Netzverbindungen lückenhaft. Ganz einfach: ein intaktes neuronales Netz im Gehirn macht einen intakten Bewegungsablauf und umgekehrt: ein gestörter, nicht intakter Bewegungsablauf zeugt von einem lückenhaften neuronalen Netz. Um ein solches wieder herzustellen, ist es erforderlich, diese Bewegungsmuster auszuüben. Und zwar so lange, bis das Netz wieder lückenlos ist. Hierbei steht Bewegung neben der körperlichen auch für die geistige Bewegung, was immer zu berücksichtigen ist, wenn kognitive Fähigkeiten beeinträchtigt sind.

Beispiel Tischtennis

Viele haben als Kinder Tischtennis gespielt, als Erwachsene aber nicht mehr. Wenn man im Alter dann die Zeit findet und es wieder einmal ausprobiert, klappt es zumeist nicht besonders. Jedenfalls nicht so, wie man es damals gekonnt hatte. Zu erklären ist das eigentlich nur, dass sich im Lauf des Lebens Schädigungen im neuronalen Netz angesammelt haben und mit ihnen die Fertigkeiten beim Tischtennis zum Teil verloren gegangen sind. Jetzt kommt es darauf an, dran zu bleiben und dem Gehirn regelmäßig die Impulse zu liefern, diese Schäden zu ersetzen und das neuronale Netz, das den Bewegungsablauf für das Tischtennisspielen koordiniert, zu erneuern.

Zeit für die Anwendung in der Demenzvorsorge


Das menschliche Gehirn kann also bis ins hohe Alter wandlungs- und anpassungsfähig bleiben. Erst einmal betrachtet ist es eine unveränderbare gallertartige Substanz. Das geistige Geschehen darin ist dagegen sehr wohl veränderbar und gleicht eher einer Wolke, die sich unaufhörlich neu formt. Diese Fähigkeit zur Neuroplastizität sorgt dafür, dass jeder sein Gehirn nach den Schädigungen, die das Leben so mitgebracht hat, gezielt zur Erneuerung anregen und es in seiner Regeneration unterstützen kann.



Wenn die Erkenntnisse über die Wirkweise der Neuroplastizität nicht nur in den Kliniken sondern zu Hause und bei jedem zur praktischen Anwendung kommt, dann könnte das nichts weniger als eine Wende zu einem Neustart im Kopf bedeuten. Alles was man vor der Erforschung der Neuroplastizität über Verlauf und Vermeidung von Demenz zu wissen glaubte, wird Makulatur. Sie zu Ende gedacht hat das Potenzial, die Entwicklung der Alterskrankheit des Geistes in der Gesellschaft zu stoppen.

Von der Praxis der Behandlung in den Kliniken zur individuellen Demenzprophylaxe ist es nur ein Schritt:

Um von der Praxis der Behandlung von Schlaganfallpatienten zu erfolgreichen Ansätzen bei der individuellen Demenzprophylaxe zu gelangen, ist es nur ein Schritt. Statt einen relativ großen geschädigten Bereich zu ersetzen, müssen bei der Demenz unzählige winzige weit verstreute Plaques „repariert“ werden. Aber auch wenn es sich um zwei ganz unterschiedliche Arten von Schäden im Gehirn handelt, der Ansatz sie auszubessern ist beides mal der gleiche: Gehirnerneuerung durch zielgerichtete Bewegung! Und für die Menschen wäre von großem Nutzen, wenn Forschung die vielfältigen Möglichkeiten des stets wandlungsfähigen Gehirns zur Vermeidung von Alzheimer untersuchte.

Zurück: Übersicht 2. Abschnitt – Das Gehirn

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert