Bewegung ist der Schlüssel zu geistiger Gesundheit
Mit zunehmendem Alter nimmt Bewegung in der Regel ab – sie wird einseitiger, weniger koordinativ und oft monoton. Gleichzeitig zeigen sich bei vielen Menschen erste Anzeichen einer Alzheimer-Erkrankung. Diese werden jedoch häufig ignoriert oder als vermeintlich „normale“ Alterserscheinungen abgetan. Doch sie sollten ernst genommen werden, denn sie können ein Vorbote demenzbedingter Pflegebedürftigkeit sein.
Nun erwecken Medienberichte über neue Medikamente einen „Hoffnungsschimmer“. Vielen älteren Menschen wird dadurch suggeriert, dass es im Falle einer eigenen Betroffenheit endlich ein wirksames Mittel zur Heilung gibt. So ist es aber nicht, denn diese sogenannten Antikörpertherapien haben nur eine unterstützende Wirkung.
Arzneimittel: Hoffnung nur in Verbindung mit Bewegung
Wird die Antikörpertherapie gezielt mit komplexer, koordinativ anspruchsvoller Bewegung kombiniert, können messbare Fortschritte erzielt werden. Dieses System, das einerseits auf die Reduktion schädlicher Proteinablagerungen im Gehirn abzielt („Clearing der Amyloidplaques“), und andererseits auf vielfältige, den Geist fordernde Aktivitäten setzt, könnte den entscheidenden Durchbruch zu dauerhafter geistiger Gesundheit bringen. Für die Betroffenen selbst bedeutet das eine enorme Herausforderung, für die es viel Motivation braucht. Sie müssten dann nämlich etwas tun, das sie in den Jahren, bevor die Krankheit manifest wurde, versäumt haben: körperlich aktiv sein.
Die Grenzen der neuen Medikamente
Im Jahr 2025 gab die Europäische Arzneimittel-Agentur grünes Licht für die Wirkstoffe Lecanemab und Donanemab. Die Wirksamkeit der beiden Arzneimittel ist bislang sehr begrenzt. Zudem treten bei einem Großteil der Behandelten erhebliche Nebenwirkungen auf. Das wissenschaftliche Fazit fällt bislang nüchtern aus: Die Präparate werden allenfalls als erster Schritt auf einem langen Weg gesehen – hin zu einem möglichen Medikament, das eines Tages die zerstörerischen amyloiden Plaques im Gehirn tatsächlich nachträglich auflösen könnte.
Doch selbst wenn es gelingt, die Plaques aufzulösen, wäre dies erst der Anfang, um geistige Gesundheit wiederherzustellen. Alzheimer-Patienten können sich nämlich nur dann berechtigte Hoffnung auf eine Besserung machen, wenn sie zusätzlich bereit sind, sich regelmäßig zu bewegen.
Wenn Nervenzellen verklumpen, sterben ihre Verbindungen
Selbst wenn eines Tages ein Medikament existiert, das die Plaques ohne schwere Nebenwirkungen vollständig auflöst, wäre damit noch nichts gewonnen. Denn wenn Nervenzellen absterben, zerfallen auch ihre Dendriten, also die feinen Zellfortsätze, über die sie Signale empfangen und weiterleiten. Ihre Struktur wird zerstört und anschließend von Gliazellen abgebaut.

Ein Neuron besitzt 5 bis 15 Hauptdendriten, die sich in Hunderte bis Tausende feine Äste verzweigen. Diese Verbindungen gehen beim Absterben der Zelle verloren und müssen – selbst wenn die Nervenzelle wiederhergestellt ist – neu aufgebaut werden und Neurologen betonen, dass Bewegung dabei eine entscheidende Rolle spielt. Sie fördert die Dichte der Dendriten und die Synaptogenese – also die Bildung und Stärkung neuer Synapsen.
Besonders Aktivitäten wie Tanzen oder Mannschaftssport aktivieren mehrere Hirnregionen gleichzeitig. Dadurch entsteht eine verstärkte Vernetzung zwischen motorischen und kognitiven Arealen. Bewegung sollte also im Alter weder weniger noch einfacher werden – sie bleibt in jedem Lebensalter der Schlüssel zu geistiger Gesundheit, Lecanemab und Donanemab hin oder her.

Tabula rasa
Der menschliche Geist verfügt über keine angeborenen Kenntnisse; er gleicht zu Beginn des Lebens einer unbeschriebenen Tafel. Bis zu 90 % der Neuronen sind bei der Geburt nicht oder nur schwach vernetzt. Die Fähigkeit, Bewegungen zu koordinieren und geistige Leistungen zu erbringen, ist daher anfangs kaum vorhanden.
Doch Kinder besitzen einen natürlichen Bewegungsdrang – und indem sie ihm folgen, wachsen und gedeihen Dendriten und Synapsen. Mit der zunehmenden Vernetzung der Nervenzellen entfalten sich auch die kognitiven Fähigkeiten: Das „Beschreiben der Tafel“ beginnt.
Tabula rasa des Alters
Im Alter zeigt sich eine neue Variante dieser „unbeschriebenen Tafel“. Durch Medikamente, die zerstörte Nervenzellen wieder funktionsfähig machen, könnte ein Zustand entstehen, der an den kindlichen Neubeginn erinnert. Sind etwa 10 % der 80 Milliarden Neuronen durch amyloide Plaques zerstört, spricht man vom Anfangsstadium der Alzheimer-Krankheit. In diesem Stadium sind bereits koordinative und kognitive Fähigkeiten stark beeinträchtigt. Hier stellt sich die Frage: Was kann ein Gehirn leisten, in dem acht Milliarden zuvor zerstörter Neuronen durch Medikamente wieder gesund geworden sind?
Da mit der Zerstörung der Nervenzellen auch deren unzählige Dendriten und Synapsen verloren gingen, sind die Funktionen von Bewegung und Kognition zunächst nicht automatisch wiederhergestellt. Medikamente können die Zellen regenerieren, nicht aber ihre Verbindungen. Erst durch gezielte, regelmäßig ausgeübte Aktivitäten lassen sich die neuronalen Netzwerke neu aufbauen, wodurch auch geistige Fähigkeiten wiedergewonnen werden könnten.
Wie viele gesunde Nervenzellen braucht es, um geistig gesund zu bleiben?
Unweigerlich stellt sich die Frage: Braucht der Mensch tatsächlich alle 80 Milliarden Nervenzellen, um geistig gesund zu bleiben – oder reichen auch weniger? Neurologen geben eine überraschende Antwort: „Ja, grundsätzlich kann man mit etwa 90 % der ursprünglichen Nervenzellen geistig völlig gesund bleiben – vorausgesetzt, das Gehirn wird aktiv gefordert und trainiert.“
Sie nennen dafür drei zentrale Gründe:
1. Das Gehirn hat enorme Reserven. Es ist hochgradig redundant aufgebaut – mit weit mehr Nervenzellen und Synapsen, als für Alltagsfunktionen nötig sind. Selbst wenn 10 % oder mehr verloren gehen, kann das Gehirn Aufgaben umverteilen und kompensieren. Erst wenn kritische Netzwerke (z. B. im Hippocampus oder präfrontalen Kortex) stark geschädigt sind, treten deutliche Einbußen auf.
2. Plastizität: Das Gehirn kann sich anpassen. Bis ins hohe Alter bleibt das Gehirn neuroplastisch – es kann neue Verbindungen bilden, bestehende Netzwerke umorganisieren und in begrenztem Umfang sogar neue Nervenzellen erzeugen, vor allem im Hippocampus. Mentale und körperliche Aktivität fördern genau diese Mechanismen.
3. Koordinativ anspruchsvolle Aktivitäten sind besonders wirksam. Aktivitäten, die Bewegung, Denken, Feinmotorik und Aufmerksamkeit kombinieren, wirken wie ein Hochleistungstraining für das Gehirn. Beispiele sind Tanzen mit neuen Schrittfolgen, Musizieren, Gleichgewichts- oder Koordinationsübungen sowie das Erlernen neuer Sprachen oder Bewegungsabläufe. Diese fördern die Synapsenbildung, Durchblutung und Ausschüttung von Wachstumsfaktoren – und reduzieren Stress, der Nervenzellen schädigt.
Fazit: Ja – ein Mensch kann mit etwa 90 % seiner ursprünglichen Nervenzellen geistig völlig gesund und leistungsfähig bleiben. Entscheidend ist, dass das Gehirn regelmäßig gefordert wird, genügend Schlaf, Bewegung und eine ausgewogene Ernährung bekommt – und dass chronischer Stress möglichst vermieden wird. Denn die Qualität der Vernetzung ist wichtiger als die reine Zahl der Nervenzellen. Oder, wie Neurologen es ausdrücken: „Nicht wie viele Neuronen du hast, zählt – sondern wie gut sie miteinander sprechen.“
Ist die Suche nach der „Pille gegen Alzheimer“ zweifelhaft?
Wenn im Alter noch 90 % der Zähne gesund sind, kann man immer noch kräftig zubeißen. Ähnlich verhält es sich mit dem Gehirn: Selbst wenn von den rund achtzig Milliarden Nervenzellen „nur“ siebzig Milliarden intakt bleiben, ist geistige Fitness weiterhin gut möglich. Entscheidend ist nämlich nicht, wie viele Nervenzellen vorhanden sind, sondern wie gut sie vernetzt sind – also wie dicht die Dendriten und Synapsen im neuronalen Netzwerk gewoben sind und wie lebhaft die Kommunikation zwischen ihnen abläuft.
Aus dieser Perspektive erscheinen die riesigen Bemühungen, eine „Pille gegen Alzheimer“ zu finden, eher zweifelhaft. Denn letztlich könnte sich die Suche nach einem solchen Wundermittel als teurer Irrweg erweisen – wenn wir dabei vergessen, dass geistige Gesundheit vor allem durch ein bewegtes Leben möglich ist und nicht durch Chemie allein.